Stummer Wächter – Nachleben einer neuassyrischen Rundskulptur

In den frühen Morgenstunden, am Sonnabend des 1. April 1899, trieb es Carl Friedrich Lehmann – wie es scheint ohne seinen Reisegefährten Waldemar Belck – erneut auf den Ruinenhügel von Nimrud, den er am Vortage bereits mit Interesse und zugleich mit einem melancholischen Blick auf die seit Jahrzehnten offen daliegenden Monumente der britischen Grabungen besucht hatte.1 Fortwährend durch die Trümmer an die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit gemahnt stieg er im Nordwesten auf die Zitadelle, am Stufenturm vorbei in Richtung Südosten zu den Überresten des Nabû-Tempels. Dort hatte ihn tags zuvor eine große Rundskulptur aus Stein in den Bann gezogen, die halb in der Erde steckend ihr Dasein fristete. Ungeachtet seiner misslichen Lage stand der Torso aufrecht, die Hände ruhig vor der Brust ineinandergelegt, mit Schalgewand bekleidet und das Gesicht abgerieben und bestoßen von den vielen Steinen, denen es als Zielscheibe gedient hatte.

Umzeichnung der photographischen Aufnahme vom April 1899 von Lucy Du Bois-Reymond (Lehmann-Haupt 1906: Taf. V)

Hormuzd Rassam hatte die über drei Meter hohe Skulptur im März 1854 im neuassyrischen Ezida, dem Tempel des Nabû, entdeckt. Sie stammt wohl aus der Zeit von Adad-nīrārī III. und bewachte gemeinsam mit ihrem zerbrochenen Zwilling das Verbindungstor zwischen Vor- und Haupthof, wo vier kleinere Statuen paarweise den Zugang in den Schrein flankierten.2 Während letztere den Weg ins British Museum fanden, reichten die verfügbaren Mittel nicht mehr aus, um zumindest das unbeschädigte Exemplar nach Großbritannien zu schicken. Dies bedauerte H. Rassam, denn er hatte die Statuen zwar zum Schutz wieder mit Erde bedeckt, aber feststellen müssen, dass spätestens zwanzig Jahre später, als George Smith im April 1873 in Nimrud seine Ausgrabungen begann, die Statuen offenbar wieder frei lagen und Schaden genommen hatten.3 So legen heute lediglich zwei Zeichnungen aus der Hand von William Boutcher Zeugnis von den einstigen Gesichtspartien, der Form des Polos und der Hörnerkrone ab, die inzwischen kaum noch zu erahnen sind.

Nach dem Besuch von C. F. Lehmann stießen am 7. Januar 1908 wohl auch Friedrich Sarre und Ernst Herzfeld auf ihrer Forschungsreise durch Mesopotamien auf die Rundskulptur, denn sie berichten, es ragten noch die Köpfe und Oberteile der Skulpturen aus der Oberfläche des Hügels.4

Die erste veröffentlichte photographische Aufnahme verdanken wir einem Besuch von Gertrude Bell ein Jahr später, am 27. April 1909. In ihrem Tagebuch notierte sie über Nimrud: „A pitiful sight with the inscrips. winged genii and statue standing half out of the ground.“5 Sie zeigte sich sichtlich bemüht, die ungeschützte Gottheit wieder mit Erde zu bedecken, wenn es schon nicht möglich sei, sie in ein Museum zu transportieren, und schrieb dazu in ihrem später veröffentlichten Reisebericht:

In one place a stone statue projects head and shoulders out of the ground, the face of the king or god which it represents being already terribly battered. The number of Assyrian statues known to us is exceedingly small […] yet this splendid example is allowed to fall into decay for want of a handful of earth wherewith to cover it. The city of Calah is associated with some of Layard’s most memorable triumphs; for the sake of our own honour it would be well that we should take steps to preserve the works of art that remain in it, and that, if we cannot find money to transport them to the museum at Constantinople, we should at least employ a few men to re-bury them until more enthusiastic archaeologists turn their attention to Nimrud.

Sheikh ‚Askar of the Jebbûr, who had accompanied me from his tents by the river, listened sympathetically while I lamented over the statue, and volunteered to bury it under the earth as soon as his men should have brought over their flocks from the west bank. I applauded the suggestion and encouraged it with bakhshîsh, but unless I am much mistaken, the sheikh’s resolve has not yet reached the point of execution.

Bell 1911: 229

Es würde nach dieser Schilderung nicht verwundern, wenn es G. Bells persönlicher Verdienst gewesen wäre, dass nicht nur der lädierte Koloss, sondern auch seinen trotz Beckenbruchs inzwischen besser erhaltener Zwillingsbruder in das von ihr neu gegründete Irak Museum verbracht wurden, um dort, den Eingang flankierend, als Wächter zu fungieren. Allerdings konnte G. Bell die Früchte ihrer Bemühungen nicht mehr bewundern, denn die Bildwerke scheinen erst Ende 1926 dorthin gelangt zu sein, wenige Monate nach dem Tode von G. Bell.6

König Faisal I. vor der Erinnerungstafel an Gertrude Bell am Eingang des Irak Museums flankiert von den beiden Ende 1926 dorthin verbrachten neuassyrischen Götterskulpturen aus Nimrud. (Werr 2015: Abb. 2)

Beide Skulpturen blieben noch bis zur Errichtung des neuen Museums 1966 gemeinsam am Eingang stehen.7 Danach trennten sich ihre Wege; während das besser erhaltenen Exemplar bis heute Blickfang der zentralen Inszenierung im Ausstellungsaal für assyrische Denkmäler ist, war seinem Gegenstück wieder kein Dach über dem Kopf vergönnt. Nunmehr immerhin in voller Größe und sogar auf einem zusätzlichen Sockel gehoben steht der stumme Wächter seitdem zwar nicht mehr am Eingang eines assyrischen Tempels, dafür aber an prominenter Stelle am Haupteingang des Irak Museums. Dort trotzte er im April 2003 den Kämpfen und der Zerstörung, vermochte aber den Plünderungen nichts entgegenzustellen.8 Seit 2015 begrüßt das geschundene Antlitz endlich wieder Besucher vor den Toren des Museums und führt diese Aufgabe bis zum heutigen Tage fort – 169 Jahre nach seiner Entdeckung.

Der stumme Wächter am Eingang des Museums 2016 (Foto: David Stanley) (CC BY 2.0)

Anmerkungen

  1. Lehmann-Haupt 1926: 253–254
  2. Gadd 1936: 229; Oates 1957: 28; Mallowan 1966: 234 Abb. 196; Oates/Oates 2001: 112 Abb. 113; zu den Skulpturen und ihrer Größe siehe Strommenger 1970: 20 (NmAdn 5 und 6) Abb. 9 Taf. 10a–b und zuletzt Wicke 2021
  3. Rassam 1897: 10–11; Smith 1875: 72–74
  4. Sarre/Herzfeld 1911: 209; ferner Sarre/Herzfeld 1920: 103
  5. Gertrude Bell Archive (Diary entry 27 April, 1909)
  6. Werr 2015
  7. Department of Antiquities 1937: 134 Abb. 114
  8. Bogdanos 2005: 478 Abb. 1

Weiterführende Literatur

  • Gertrude Lowthian Bell, Amurath to Amurath (London 1911)
  • Matthew Bogdanos, The Casualities of War: The Truth about the Iraq Museum, American Journal of Archaeology 109, 2005, 477526
  • Department of Antiquities, Guide To The Collections In The Iraq Museum (Baghdad 1937)
  • Cyril John Gadd, The Stones of Assyria. The surviving remains of Assyrian sculpture, their recovery, and their original positions (London 1936)
  • Carl Friedrich Lehmann-Haupt, Materialien zur älteren Geschichte Armeniens und Mesopotamiens (Berlin 1906)
  • Carl Friedrich Lehmann-Haupt, Armenien – Einst und Jetzt. Band II,1: Das türkische Ost-Armenien – In Nord-Assyrien (Berlin 1926)
  • Albert. T. Olmstead, History of Assyria (Chicago 1923)
  • Hormuzd Rassam, Asshur and the Land of Nimrod Being an Account of the Discoveries Made in the Ancient Ruins of Nineveh, Asshur, Sepharvaim, Calah, Babylon, Borsippa, Cuthah, and Van Including a Narrative of Different Journeys in Mesopotamia, Assyria, Asia Minor, and Koordistan (Cincinnati 1897)
  • Friedrich Sarre – Ernst Herzfeld, Archäologische Reise im Euphrat- und Tigris-Gebiet. Band I (Berlin 1911)
  • Friedrich Sarre – Ernst Herzfeld, Archäologische Reise im Euphrat- und Tigris-Gebiet. Band II (Berlin 1920)
  • George Smith, Assyrian Discoveries; An Account of Explorations and Discoveries on the Site of Niniveh, During 1873 and 1874 (New York 1875)
  • Eva Strommenger 1970, Die neuassyrische Rundskulptur, ADOG 15 (Berlin)
  • Lamia al-Gailani Werr, Displaying and redisplaying Nimrud at the Iraq Museum, Nimrud: Materialities of Assyrian Knowledge Production, The Nimrud Project at Oracc.org, 2015
  • Dirk Wicke, Im rechten Maß. Bemerkungen zur neuassyrischen Rundskulptur, in: P. A. Miglus (Hrsg.), Altorientalische Variationen – zum 90. Geburtstag von Eva Strommenger, HSAO 17 (Berlin 2021) 89110
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