Mit diesen Worten erinnerte Hugo Winckler an die wohl wenig komfortable Unterkunft während der ersten regulären Grabungskampagne in Ḫattuša im Jahre 1906. Nach einem kurzen Besuch der Ruinen im Vorjahr hielt er sich gemeinsam mit Theodor Makridi Bey für rund fünf Wochen in der Hauptstadt der Hethiter auf und unternahm im Namen des Osmanischen Museums archäologische Grabungen, die rasch große Mengen an Keilschrifttafeln zu Tage förderten.
Das Zeltlager war oberhalb des später freigelegten »Hauses am Hang« angelegt worden. Die Unterkunft behagte den beiden Forschern jedoch offenbar wenig, denn es reifte schnell der Entschluss heran, möglichst umgehend für die zukünftigen Unternehmungen ein Grabungshaus zu bauen. Tatsächlich wurde dieses Vorhaben bereits 1907 umgesetzt, indem Makridi Bey am Ort des ursprünglichen Lagerplatzes auf einer eigens terrassierten Fläche die geräumige Grabungsvilla mit Blick über den Großen Tempel errichten ließ.
Die weiß getünchten Wänden des neuen Grabungshauses setzen sich in der ersten Fotografie aus dem Jahre 1907 markant von der Felsenkulisse der Stadtlandschaft ab. Am Fuß des Hanges liegen die noch unvollständig freigelegten Ruinen des Großen Tempels. Den Vordergrund nimmt der Dreschplatz ein, auf dem einige Bewohner des weiter rechts, außerhalb des Bildes befindlichen Dorfes Boğazköy ihrer Arbeit nachgehen. Blickwinkel und Bildausschnitt verraten den genauen Standort des Fotoapparates auf dem noch immer sichtbaren Wall im Nordwesten und Nordosten des Dreschplatzes, in dem sich die Überreste der dort aufeinandertreffenden westlichen Außenmauer und nördlichen Abschnittsmauer verbergen1 – einem der südlichsten Punkte der ummauerten Stadt. Im Hintergrund, etwas verdeckt durch den hoch aufragenden Felden von Sarıkale ist die Silhouette von Yerkapı zu erkennen, dem nördlichen Rand der Stadt.
In der Bildmitte ist die Felsspalte durch Kesikkaya zu sehen sowie der unmittelbar dahinter anschließende Geländekamm der Poternenmauer in Richtung auf Büyükkale zu. Weiter im Hintergrund markieren die beiden Felskegel von Sarıkale und Yenicekale die südliche Grenze der westlichen Oberstadt. Rechts im Bild gibt die flache Kuppe von Taanıkkaya und der vorgelagerte Westhang mit der als ein geschlängelter Wall sichtbaren Stadtmauer die westliche Ausdehnung des ehemaligen Stadtgebietes an. Nur schwach zu erkennen sind die senkrecht stehenden Türmonolithen des unteren Westtores, das im Jahr der Aufnahme freigelegt worden war.
Bemerkenswert ist außerdem die auffallende Abweichung zwischen den Horizontlinien im Bereich der Büyükkale oberhalb des Grabungshauses, die einen Eindruck davon vermittelt, welch enormen Erdmassen bei den späteren Grabungen durch Kurt Bittel zwischen den 1930er und 1960er Jahre bewegt wurden.
Gegenüberstellung einer fotografischen Aufnahme von Erich Puchstein aus dem Jahre 1907 und einer Aufnahme von demselben Standort aus geschossen im September 2022.
Die Person hinter dem Fotoapparat war – nach der Angabe im DAI-Archiv – Erich Puchstein, Kammergerichtsreferendar und Neffe Otto Puchsteins.2 Letzterer gehörte zum Grabungsteam des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts, das sich 1907 neben den vornehmlich epigraphischen Studien von Hugo Winckler und Makridi Bey vor allem auf die Ausgrabungen, die Fund- und Keramikbearbeitung sowie die Vermessung der Stadt und Bauwerke konzentrierte.
Ausgrabungen fanden sowohl in der Unterstadt (Großer Tempel/Tempel 1) als auch in der zentralen Oberstadt (Tempel 2–4 und der „Palast“/Tempel 5) statt. Daneben wurde hauptsächlich die Befestigungsanlage und ihre Tore untersucht. Die zweite Aufnahme zeigt eines der damals freigelegten Stadttore durch die westliche Stadtmauer unterhalb von Taanıkkaya, das sogenannte Obere Westtor. Es gehört angesichts des Löwentores, Königstores sowie des Sphinxtores auf Yerkapı zu den vergleichsweise unscheinbar ausgestalteten Toren und liegt auch heute noch etwas versteckt abseits der modernen Verkehrswege durch die Stadt. Dies und seine Lage an der Hangkante, die in kurzer Distanz hinab ins Tal zum Dorf Boğazkale führt, mögen die Gründe dafür gewesen sein, dass in den 115 Jahren seit der Freilegung des Tores wesentliche Teile der ursprünglichen Mauersubstanz abgetragen und für den Häuserbau im Dorf verwendet wurden.
Aufnahme des Oberen Westtores aus dem Jahre 1907 mit noch mehrere Lagen hoch anstehendem Mauerwerk und eine Aufnahme im September 2022.
Das Obere Westtor ist Teil des seit 2022 am Westhang der Oberstadt durchgeführten Grabungsprojektes der Vorderasiatischen Archäologie in Würzburg. In enger Zusammenarbeit mit dem DAI-Istanbul und mit Unterstützung der VolkswagenStiftung soll die bislang unerforschte Besiedlungs- und Nutzungsgeschichte des Westhanges unterhalb von Taanıkkaya archäologisch untersucht werden.
Anmerkungen
- Siehe dazu auch die dort im Jahre 2009 durchgeführte geophysikalische Prospektion (A. Schachner, Die Ausgrabungen in Boğazköy-Ḫattuša 2009, Archäologischer Anzeiger 2010/1, 180 Abb. 26).↑
- Erich Puchstein assistierte in erster Linie Heinrich Kohl bei der topographischen Vermessung des Stadtgebietes und erscheint daher auch als Mitautor des 1912 veröffentlichten topographischen Stadtplans (Puchstein 1912: Taf. 1). Eine Aufnahme, die Erich Puchstein bei der Vermessungsarbeit zeigt, ist in Seeher (2010: 262 Abb. 6) sowie Schachner (2017: 52 Abb. 11d) abgedruckt.↑
Weiterführende Literatur
- Silvia Alaura, „Nach Boghasköi!“ Zur Vorgeschichte der Ausgrabungen in Boğazköy-Ḫattuša und zu den archäologischen Forschungen bis zum Ersten Weltkrieg, SDOG 13 (Berlin 2006)
- Otto Puchstein, Vorläufige Nachrichten über die Ausgrabungen in Boghaz-köi im Sommer 1907. Die Bauten von Boghaz-köi, MDOG 35, 1907, 59–71
- Otto Puchstein, Boghasköi. Die Bauwerke, WVDOG 19 (Leipzig 1912)
- Andreas Schachner, The First Period of Scientific Excavations at Boğazköy-Hattusa (1906–1912), in: Meltem Doğan-Alparslan – Andreas Schachner – Metin Alparslan (Hrsg.), The Discovery of an Anatolian Empire – Bir Anadolu İmparatorluğu’nun Keşfi. A Colloquium to Commemorate the 100th Anniversary of the Decipherment of the Hittite Language (Istanbul 2017) 42–68
- Jürgen Seeher, „Die Adresse ist: poste restante Yozgat Asie Mineure“ – Momentaufnahmen der Grabungskampagne 1907 in Boğazköy, in: Jörg Klinger – Elisabeth Rieken – Christel Rüster (Hrsg.), Investigationes Anatolicae – Gedenkschrift für Erich Neu, Studien zu den Boğazköy-Texten 52 (Wiesbaden 2010) 253–270
- Jürgen Seeher – Andreas Schachner – Ayşe Baykal-Seeher, „Hattuşa’da 106 Yıl“ Hitit Kazılarının Fotoğraflarla Öyküsüs – „106 years in Hattusha“ Photographs tell the story of the excavations in the Hittite capital (Istanbul 2012)
- Hugo Winckler, Vorläufige Nachrichten über die Ausgrabungen in Boghaz-köi im Sommer 1907. Die Tontafelfunde, MDOG 35, 1907, 1–59
- Hugo Winckler, Nach Boghasköi! – Ein nachgelassenes Fragment, Der Alte Orient 14/3, 1913, 1–32