Ringvorlesung des WAZ im WS 2022/23

Seit einigen Jahren erleben wir eine intensive gesellschaftliche Debatte um die koloniale Vergangenheit der europäischen und nordamerikanischen Staaten und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart. Postkoloniale Fragestellungen haben ihren Weg in zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen gefunden. Diese Diskussion hat auch die Altertumswissenschaften erreicht. Die modernen Disziplinen der Altertumswissenschaft haben ihre heutige Form und Methodik während des kolonialen Zeitalters zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert entwickelt; sie haben außerdem davon profitiert, dass zahlreiche Artefakte und Handschriften aus ihren Forschungsgebieten im Rahmen des Kolonialismus nach Westeuropa geschafft wurden. Hatte man sich in Europa lange gegen eine Rückgabe gewehrt, so zeigen gegenwärtige Diskussionen einen allmählichen Sinneswandel in Teilen der Gesellschaft, die eine Rückgabe befürworten. Die Ringvorlesung des Wintersemesters 2022/2023 widmet sich diesem aktuellen Thema. Sie versucht eine Selbstreflexion der Altertumswissenschaften im Horizont des aktuellen postkolonialen Diskurses, der seinerseits kritisch reflektiert werden soll. Sie fragt außerdem nach der historischen Verflechtung der Altertumswissenschaften mit kolonialer Ideologie und Praxis und lädt dazu ein, über die handelnden Menschen und Organisationen der Zeit die daraus für die Gegenwart und Zukunft zu ziehenden Schlüsse zu reflektieren.

Programm der WAZ-Ringvorlesung

24.10.2022 | Dr. Thomas Gertzen (Potsdam/Berlin)
‚issues‘ und ‚-isms‘, wokeness und Postkolonialismus: Muss die Ägyptologie dekolonisiert werden? 

Vor etwa zwei Jahrzehnten hat in der Ägyptologie eine kritische und zunehmend professionalisierte Auseinandersetzung mit der eigenen Fachgeschichte begonnen. Dem waren – im damals geteilten Deutschland – Ende der siebziger Jahre bereits erste Ansätze zu einer Fachgeschichtsschreibung vorausgegangen, die noch heute den Forschungsdiskurs mitbestimmen. Neben der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen politischen Systemen der deutschen Geschichte, stehen zunehmend auch Fragen der post colonial studies im Mittelpunkt historischer und die fachinterne Erinnerungskultur betreffender Diskussionen.  

Die Untersuchung der Rolle von Ägyptologie und insbesondere Ägyptologen (bis zur Mitte des 20. Jh. beinahe ausschließlich männlichen Geschlechts) im Kontext von Imperialismus, Nationalsozialismus oder sozialistischer Diktatur, scheint den Fachhistoriker zu moralischen Stellungnahmen und Werturteilen zu nötigen, was aber dem Anspruch wissenschaftlichen Arbeitens zuwiderlaufen kann.   

Neben einer nahezu ‚inquisitorischen‘ Verdammung, die sogar zur Forderung der Abschaffung der Disziplin führen kann, gibt es auch gegenläufige Tendenzen, bei der z.B. eine postkoloniale Gesinnung auf die Darstellung archäologischer Unternehmungen der DDR im Sudan projiziert oder die Rolle von Frauen in der Fachgeschichte – mitunter entgegen dem historischen Befund – besonders hervorgehoben und etwaige negative Aspekte in solchen Fällen lieber verschwiegen werden.  

Der Vortrag versteht sich als ein Plädoyer für eine kritische, möglichst viele Aspekte des Themas berücksichtigende wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung, die jedoch gleichzeitig ein schlichtes ’schwarz-weiß-Denken‘ und moralisierende Werturteile vermeidet.

07.11.2022 | Dr. Olaf Matthes (Berlin)
Ein imperialistischer Verein? Die Deutsche Orient-Gesellschaft in der Kaiserzeit

Die Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG) wurde 1898 während der Zeit des Hochimperialismus gegründet. Gefördert von gesellschaftlichen Eliten unterschiedlichster Ausrichtung vereinte sie das Ziel, nun auch, wie bereits Frankreich und Großbritannien zuvor, systematische Ausgrabungen in Vorderasien und Ägypten durchzuführen. Die Forschungen sollten einerseits dazu beitragen, Wissen zu generieren, das Deutungshoheit und nationales Prestige versprach. Andererseits ging es um handfeste Interessen: Es bestand der Wille, die Berliner Museen mit Funden aus den altorientalischen Hochkulturen zu bereichern, um Gleichrangigkeit mit den Referenzmuseen in London und Paris zu erlangen. 

Allerdings waren die westlichen Mächte nicht die einzigen Player mit archäologischen Interessen im Osmanischen Reich. Maßgebliche Vertreter dieses Vielvölkerimperiums sahen spätestens seit den 1890er Jahren in einem repräsentativen archäologischen Museum in Konstantinopel die Chance, sich nicht, wie es die westliche Wahrnehmung suggerierte, als „Kranker Mann am Bosporus“, sondern als starker und ebenbürtiger Kulturstaat zu präsentieren. In diesem komplexen Kontext agierte die DOG. Der Vortrag versucht der Frage nachzugehen, inwieweit das Handeln der DOG-Akteure als imperialistisch zu deuten ist.

17.11.2022 | Prof. Dr. Jonas Grethlein (Heidelberg)
Die Antike unter den Auspizien der Identitätspolitik

In den letzten Jahren hat sich in den anglophonen Altertumswissenschaften eine heftige Debatte über die eigene Geschichte und den gegenwärtigen Platz der Antike entwickelt. Treiber dieser Debatte waren vor allem antirassistische und postkoloniale Forderungen, die in der deutschsprachigen Forschung teilweise auf Unverständnis und sogar Ablehnung stießen. Der Vortrag zeichnet die verschiedenen gesellschaftspolitischen Kontexte der Altertumswissenschaften in den USA, Großbritannien und Deutschland nach, um diese Dissonanzen zu erklären, und mündet in Überlegungen, welche Rolle die Antike heute spielen kann und soll.

21.11.2022 | Dr. Martin Maischberger (Berlin)
Alles kolonial? Die Grabungen der Berliner Antikensammlung
im östlichen Mittelmeerraum 1875 – 1914. Ein neuer Blick

05.12.2022 | Dr. Doris Stolberg (Mannheim)
Sprache, Sprachwissenschaft und (Post-)Kolonialismus

Die koloniale Vergangenheit der Sprachwissenschaft ist im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Blick genommen worden, nachdem grundlegend bereits mit Calvet (1974) der Gegenstand der Koloniallinguistik entworfen worden war. Der Vortrag zeigt unterschiedliche Verbindungen zwischen Sprachwissenschaft und Kolonialismus auf und stellt dar, welche Auswirkungen das koloniale Denken auf die kolonialzeitliche Sprachverwendung, sowohl in der Metropole als auch in den Kolonialgebieten, und auf die Sprachforschung hatte. Aus postkolonialer Perspektive wurde der Zusammenhang zwischen Sprache und Kolonialismus inzwischen in verschiedenen linguistischen Bereichen untersucht (u.a. Diskurslinguistik, Sprachkontaktforschung, Toponomastik). Exemplarisch werden einige dieser Untersuchungen im Detail vorgestellt, um die Relevanz, aber auch die Problematik einer postkolonialen Herangehensweise zu illustrieren. Abschließend wird diskutiert, in welcher Form Restitution im Kontext der Linguistik notwendig, sinnvoll oder möglich ist.

16.01.2023 | Prof. Dr. Stefan Rebenich (Bern)
Die Gegenwart der europäischen Antike im Zeitalter der Globalisierung

Die Geschichte Europas ist bis in die jüngste Vergangenheit hinein auf das engste mit periodisch wiederkehrenden ‚Renaissancen‘ des griechisch-römischen Altertums verbunden. Die klassische Antike hat wichtige Vorstellungen und Modelle geliefert, um die vielfältigen Herausforderungen der Moderne zu bewältigen – sei es durch den affirmativen Bezug auf die Tradition, sei es in deutlicher Abwendung von den ‚Alten‘. Doch was bleibt nach der Historisierung dieser dynamischen Prozesse der Aneignung und Abgrenzung von dem Erbe der Antike? Welche Rolle kann das europäische Altertum in einer globalen Gegenwart überhaupt noch spielen?

30.01.2023 | Prof. Dr. Karin Steiner (Würzburg)
Deutschsprachige Indologen im 19. Jahrhundert: Netzwerke, Perspektiven und Projekte

Die Aufarbeitung der Geschichte der deutschsprachigen Indologie nimmt seit Jahren an Fahrt auf. Auch in Würzburg gab es einschlägige DFG-Projekte. Zahlreiche Publikationen, viele geprägt von Variationen des Orientalismus-Begriffes oder deren Zurückweisung, widerspiegeln teils heftige Debatten um die Deutungshohheit. Der Vortrag konzentriert sich auf die Indologen Rudolph Roth (Universität Tübingen) und Otto Böhtlingk (Petersburger Akademie der Wissenschaften), Richard Garbe (Universität Tübingen) sowie Julius Jolly (Universität Würzburg) und einige ihrer Projekte in und außerhalb Britisch Indiens. Es geht zunächst um die Entstehungsgeschichte und methodologischen Grundlagen des sogenannten „Petersburger Wörterbuches“ und die Frage, ob es ein hegemoniales Werk sei, sowie um Perspektiven auf indische Kooperationspartner, traditionelle Wissenssysteme und Manuskripterwerbungspraxis.

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